Straßenhunde im Urlaub – kaum einer ist vorbereitet | Episode 13
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Lesezeit 9 min
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Straßenhunde sind für viele Hundemenschen ein emotionales Thema: Mitleid, Unsicherheit, Ärger oder Hilflosigkeit mischen sich oft, wenn wir im Urlaub auf freilebende Hunde treffen. Besonders in Süditalien, auf Sizilien oder in Kalabrien prägen sie das Straßenbild – oft in Gruppen, manchmal einzeln, immer in einem Überlebensmodus, der für unsere „Hauswelt“ ungewohnt wirkt.
In diesem Blog wollen wir ehrlich, kynologisch und psychologisch hinschauen: Was macht Straßenhunde so besonders? Warum entstehen diese Populationen? Und was bedeutet es – für uns als Reisende mit Hund, aber auch für die Hunde selbst, wenn wir helfen oder sie adoptieren wollen?
Wir beleuchten nicht nur Fakten, sondern auch Fehlannahmen. Und wir stellen unbequeme Fragen: Was nützen Hilfsprojekte wirklich? Und wo fängt Tierliebe an, wo endet sie?
Straßenhunde leben selten allein. Sie schließen sich zu Gruppen zusammen – oft lose, flexibel, ohne enge Bindung, wie wir es aus dem Begriff „Rudel“ kennen. Biologisch gesehen ist ein Rudel eine Familienstruktur aus Eltern und Nachkommen. Die meisten Straßenhunde sind jedoch nicht miteinander verwandt. Deshalb sprechen Kynologen eher von sozialen Gruppen , die sich pragmatisch zusammenfinden: Futter suchen, sich gegen Gefahren schützen, Ruheplätze teilen.
Diese Gruppen sind dynamisch: Hunde kommen und gehen. Ein ständiger harter Konkurrenzkampf wäre energieaufwendig und gefährlich. Stattdessen entstehen Rangordnungen, die oft durch Alter, Erfahrung und Präsenz geprägt sind – weniger durch Körpergröße oder Stärke.
Für uns als Hundemenschen wird es spannend, wenn wir mit eigenen Hunden auf diese Gruppen treffen. Denn: Straßenhunde haben eine ganz andere Sozialisation als unsere Hunde. Sie sind meist sozial kompetent, zeigen aber klare Distanzen. Sie wollen nicht gestreichelt werden, sie wollen keinen Kontakt – außer vielleicht zu läufigen Hündinnen. Viele zeigen territorial motiviertes Bellen, um uns aus ihrem Bereich zu halten.
Wer Hundesprache versteht, erkennt: Straßenhunde wollen keinen Konflikt. Ihre Warnsignale sind klar. Gefährlich wird es vor allem dann, wenn wir sie ignorieren, uns unüberlegt nähern oder unsere eigenen Hunde unkontrolliert auf sie zulaufen lassen.
Viele Hundemenschen unterschätzen, wie wichtig ihr eigenes Verhalten in solchen Begegnungen ist. Straßenhunde sind nicht „aggressiv“, aber sie sind hochsensibel. Sie haben gelernt, in Sekunden zu lesen: Ist das hier eine Gefahr? Ein potenzieller Futtergeber? Jemand, der Stress macht?
Deshalb gilt:
Bogen laufen, nicht frontal nähern.
Direktes Aufeinanderzugehen ist in der Hundesprache konfrontativ. Wenn du in einem weiten Bogen gehst, signalisiert das: Ich mache keinen Stress. Besonders wichtig, wenn dein eigener Hund an der Leine stark auf andere Hunde reagiert.
Nicht aufmischen: Hände klatschen oder sich aufbauen nur, wenn nötig.
Viele Straßenhunde meiden direkten Kontakt. Wenn sie sich nähern, ist es oft Neugier, kein Angriff. Lautes Klatschen, Arme heben, sich „groß machen“ funktioniert nur, wenn du es dosierst: zu viel davon kann die Situation eskalieren, weil die Hunde es als Bedrohung empfinden. Weniger ist oft mehr.
Maulkorb griffbereit, wenn der eigene Hund unsicher oder reaktiv ist.
Nicht wegen der Straßenhunde, sondern wegen deines Hundes. Reaktive Hunde sind oft überfordert, wenn sich eine Gruppe nähert. Ein Maulkorb kann hier nicht nur rechtlich sinnvoll sein (gerade bei Listenhunden), sondern auch dir Sicherheit geben, um souveräner zu bleiben.
Straßenhunde sind Meister der nonverbalen Kommunikation. In ihrer Welt zählt kein Halsband, kein Rufname, kein „Sitz“. Sie beobachten kleinste Signale: Wie spannst du deine Schultern an? Wohin zeigen deine Füße? Hebst du die Augenbrauen?
Kynologisch betrachtet liegt hier ein entscheidender Unterschied zu Haushunden: Während viele Haushunde im Alltag von Menschenreizen überflutet sind und diese ausblenden, müssen Straßenhunde permanent achtsam sein. Sie haben eine „feine Antenne“ für Veränderungen in der Umwelt – und genau deshalb reagieren sie auf klare, ruhige Körpersignale oft besser als auf hektisches Wegscheuchen.
Psychologisch wichtig: Auch dein Hund liest die Situation. Wenn du hektisch wirst, überträgt sich das. Viele Hunde reagieren dann entweder überängstlich oder übertrieben mutig – beides kann die Situation verschärfen. Atme bewusst, nimm deinen Hund hinter dich, bleib ruhig, dreh dich leicht weg – und vermittle deinem Hund: „Alles unter Kontrolle.“
Das Straßenhundeproblem in Südeuropa hat komplexe, historische und gesellschaftliche Ursachen. Es geht nicht nur um verantwortungslose Einzelpersonen, sondern um alte Haltungsmodelle, fehlende Kastrationen und mangelnde politische Strukturen.
Traditionelle Haltungsmodelle
In vielen ländlichen Regionen werden Hunde seit jeher als „Nutztier“ gesehen: Wachhund, Hofhund, Jagdhund, Herdenschutzhund. Diese Tiere werden oft isoliert gehalten, an der Kette, in Zwingern oder auf großen Feldern. Sozialkontakt, Beschäftigung oder Bindung zum Menschen spielen kaum eine Rolle. Wenn sie alt, krank oder unbrauchbar werden, werden sie ausgesetzt.
Beispiele:
In Spanien werden viele Galgos (Windhunde) und Podencos nach der Jagdsaison entsorgt.
In Griechenland und Bulgarien sieht man oft Herdenschutzhunde, die sich selbst überlassen werden, sobald sie nicht mehr gebraucht werden.
In Rumänien und Italien landen Wachhunde auf der Straße, weil niemand sie versorgen will.
Fehlende Kastrationen: Warum sie bei Straßenhunden entscheidend sind
In Ländern wie Italien, Spanien oder Rumänien werden Hunde oft nicht kastriert – weder Haushunde noch Straßenhunde. Gerade bei Hof-, Wach- oder Jagdhunden gilt Kastration traditionell als „unnatürlich“ oder „nicht notwendig“. In Mitteleuropa dagegen wird bei Haushunden meist individuell entschieden, ob eine Kastration medizinisch oder verhaltensbedingt sinnvoll ist.
Doch während intakte Haushunde unter menschlicher Aufsicht leben, Kontakt kontrolliert und Fortpflanzung verhindert werden kann, sieht die Realität bei Straßenhunden völlig anders aus. Unkastrierte Hunde auf der Straße paaren sich fast immer , oft schon ab einem Alter von sechs bis acht Monaten. Studien aus Südeuropa schätzen, dass pro unkastrierter Hündin und Jahr durchschnittlich 8–10 Welpen geboren werden. Die Welpensterblichkeit liegt dabei je nach Region zwischen 30 und 70 %. Das heißt: Von zehn geborenen Welpen überleben oft nur drei bis fünf – die sich ihrerseits bald wieder vermehren.
Aus veterinärmedizinischer Sicht spielen Sexualhormone wie Östrogene, Progesteron und Testosteron eine wichtige Rolle für Entwicklung, Stoffwechsel und Verhalten. Bei Haushunden betonen Tierärzte deshalb zu Recht: Kastration sollte keine Routine sein, sondern eine wohlüberlegte Entscheidung. Bei Straßenhunden aber gilt: Kastration ist Tierschutz.
Warum Kastration für Straßenhunde wichtig ist:
Verhindert unkontrollierte Vermehrung und damit die Vergrößerung der Straßenhundpopulation.
Reduziert Krankheiten , z. B. Gebärmutterentzündungen, Hodenkrebs, Mammatumoren.
Mindert hormongetriebene Aggression , verringert Stress und Kämpfe in Gruppen.
Schont Hündinnen , die ohne Kastration oft zwei- bis dreimal pro Jahr trächtig werden – körperlich ein enormer Raubbau.
Jagdhunde, Herdenschutzhunde und ihre Nachkommen auf der Straße
In Südeuropa stammen viele Straßenhunde aus zwei Hauptquellen: Jagdhunde und Herdenschutzhunde . Diese Hunde sind nicht „irgendwelche Mischlinge“, sondern tragen genetisches Erbe, das ihr Verhalten maßgeblich prägt.
Jagdhunde wie Galgos und Podencos (Spanien) werden häufig nach der Jagdsaison ausgesetzt, wenn sie verletzt, „nicht mehr schnell genug“ oder schlicht überzählig sind. Diese Hunde sind hochsensibel, haben einen ausgeprägten Lauf- und Sichttrieb und sind oft extrem scheu gegenüber Menschen – gerade nach Misshandlung.
Herdenschutzhunde wie Maremmano Abruzzese (Italien), Karakachan (Bulgarien) oder Kangal-Mixe (Griechenland/Türkei) sind von ihrer Zucht auf eigenständiges Arbeiten geprägt. Sie bewachen Herden oft ohne direkten Menschenkontakt, treffen eigenständige Entscheidungen und verteidigen „ihr“ Territorium kompromisslos. Werden solche Hunde ausgesetzt oder vermehren sich unkontrolliert auf Feldern, entstehen Straßenhundegruppen, die für Menschen und andere Hunde potenziell gefährlich sein können – nicht aus „Bösartigkeit“, sondern weil ihr genetisches Programm auf Schutz und Verteidigung ausgelegt ist.
Fehlende politische Strategien: Warum das Problem bestehen bleibt
Das Straßenhundeproblem in Südeuropa – und auch in Teilen Osteuropas – ist nicht allein ein „Tierschutzproblem“. Es ist ein komplexes Zusammenspiel aus Politik, Gesellschaft, Tierhaltungstraditionen und fehlenden Ressourcen .
In vielen Ländern fehlen flächendeckende Kastrationsprogramme, weil:
es kein verpflichtendes Haustierregister gibt,
Behörden nicht die Mittel haben, Besitzerkontrollen durchzuführen,
Tierärzte nicht staatlich für Kastrationen bezahlt werden,
und das Thema politisch kaum Priorität hat, weil es selten Wahlen entscheidet.
Das Resultat:
Hunde werden weiterhin „für den Hof“ oder die Jagd angeschafft, nicht kastriert und ausgesetzt, wenn sie nicht „funktionieren“.
Straßenhunde vermehren sich unkontrolliert.
Tierheime (sofern vorhanden) sind überfüllt und häufig auf einem Niveau, das eher Lagerhaltung als Tierschutz bedeutet.
Viele Kommunen greifen zu kurzfristigen, drastischen Mitteln wie Tötungsaktionen, um vor Großveranstaltungen „saubere Straßen“ zu haben.
Fehlende Konsequenz im Training
Ein zentraler Aspekt beim Trainieren der Leinenführigkeit ist Konsequenz. Hunde lernen durch klare Regeln und wiederholte Übung. Wenn du jedoch nicht konsequent bist und das Ziehen an der Leine mal durchgehen lässt, mal korrigierst, entsteht Verwirrung.
Dieser Mangel an Konsistenz führt dazu, dass dein Hund nicht versteht, welches Verhalten von ihm erwartet wird. Langfristig wird das Ziehen dadurch noch verstärkt, weil der Hund nie eine klare Orientierung erhält.
Hohes Erregungsniveau
Ein hoher Erregungszustand macht es deinem Hund schwer, ruhig an der Leine zu laufen. Besonders Hunde aus Arbeitslinien oder mit hoher Energie, wie Border Collies oder Labradore, reagieren impulsiv auf ihre Umgebung. Je mehr Reize – wie andere Hunde, Menschen oder Geräusche – auf deinen Hund einwirken, desto höher steigt sein Erregungsniveau.
Fehlende Impulskontrolle verstärkt dieses Verhalten zusätzlich. Hunde, die nicht gelernt haben, ihre Energie zu regulieren, ziehen impulsiv in Richtung ihres Ziels. Besonders in solchen Momenten wird deutlich, wie wichtig es ist, gezielt an der Impulskontrolle zu arbeiten und deinem Hund dabei zu helfen, sich selbst zu beruhigen.
Der Auslandstierschutz ist ein zweischneidiges Schwert: Er rettet Leben – aber er löst das Grundproblem nicht. Hunde aus Rumänien, Spanien (z. B. Galgos), Italien, Griechenland oder Bulgarien werden regelmäßig nach Mitteleuropa vermittelt. Dahinter stehen oft engagierte Menschen mit großem Herz. Doch genau hier liegt die Herausforderung:
Viele Straßenhunde sind hoch spezialisiert auf ihr Umfeld , sie sind Überlebenskünstler, keine Sofahunde.
Sie haben oft kein Sozialverhalten , das zu einem Stadtleben in Deutschland, Österreich oder der Schweiz passt: Menschen, Verkehr, enge Wohnungen, Leinenpflicht, andere Hunde, fremde Gerüche – all das kann sie massiv überfordern.
Viele dieser Hunde leiden nach der Ankunft unter chronischem Stress, Angststörungen, Aggressionen oder Depressionen.
Nicht selten landen sie nach wenigen Monaten wieder im Tierheim, jetzt als „Problemhunde“, die schwer vermittelbar sind.
Das bedeutet nicht, dass Auslandstierschutz per se falsch ist. Aber er muss verantwortungsvoll und selektiv geschehen. Nur Hunde, die körperlich und psychisch geeignet sind, sollten vermittelt werden. Vor der Vermittlung braucht es eine Einschätzung durch erfahrene Verhaltensspezialist:innen. Denn nicht jeder Hund ist mit Liebe, Geduld und einem warmen Körbchen zu retten.
Der Auslandstierschutz hat unbestreitbar seine Berechtigung – aber er darf nicht blind betrieben werden . Es reicht nicht, „nur ein Leben zu retten“. Entscheidend ist: Wem wird geholfen, und wie nachhaltig?
Nicht jeder Straßenhund ist geeignet für ein Leben in einer Stadtwohnung, an der Leine, mit fremden Menschen und Hunden. Besonders Herdenschutzhunde, Windhunde (wie Galgos) und Jagdhunde sind genetisch auf bestimmte Aufgaben und Lebensräume geprägt. Ihre Verhaltensweisen sind oft biologisch tief verankert. Wer sie in eine komplett andere Umgebung verpflanzt, ohne diese Eigenarten zu berücksichtigen, riskiert chronischen Stress, Verhaltensstörungen und ein unglückliches Leben – trotz bester Absichten.
Verantwortungsvoller Tierschutz heißt nicht nur, Hunde nach Mitteleuropa zu bringen. Er bedeutet auch, vor Ort zu helfen:
Kastrationsprojekte, Impfprogramme, Futterstellen.
Zusammenarbeit mit lokalen Behörden und Tierärzten.
Unterstützung von Aufklärungskampagnen, um langfristig die Mentalität zu ändern.
Denn eines ist klar: Das Elend auf der Straße endet nicht, wenn wir nur die stärksten Überlebenden retten. Es endet, wenn wir die Strukturen ändern.